Shoshin

Du willst durch Dein Aikido Training wie ein Zen-Mönch endlich in andere Sphären vordringen und die geistigen Anstrengungen Normalsterblicher hinter Dir lassen? Dann solltest Du Dich vom Geist des Shoshin durchströmen lassen. Egal, ob Du kompletter Anfänger oder bewährter Veteran des Aikido bist: Shoshin bringt Dich aufs nächste Level.

So oder so ähnlich würde das wahrscheinlich ein gewiefter Werbetexter verfassen ...und interessanterweise ist genau das im Kontext von Shoshin vielleicht sogar richtig, aber trotzdem gar nicht sinnvoll. Aber dazu kommen wir gleich. Erstmal: Was ist denn jetzt dieses Shoshin?

Shoshin ist ein Konzept des japanischen Zen-Buddhismus welches frei mit "Anfänger-Geist" übersetzt werden kann. Der Grundgedanke ist, eine Einstellung von Offenheit und Wissbegierde zu bewahren sowie sich mit vorgefassten Meinungen zurück zu halten, selbst wenn man bereits sehr tief in ein Thema eingearbeitet ist.

Es ist extrem einfach eine vorgefasste Meinung von etwas aufzubauen. Gerade Kampfkunst ist ein Thema, dass so sehr durch die springenden Shaolin Mönche und Ninja von Hollywood vereinnahmt ist, dass es schwer ist ohne Erwartungshaltung auf die Matte zu kommen. Vielleicht hat der ein oder andere vor seiner ersten Aikido Stunde Fantasien von effektiver Selbstverteidigung in einer dunklen Gasse gehabt. Oder von stoisch den Geist meisternden Zen-Mönchen, die nicht mit der Wimper zucken, selbst wenn sich der zehnte Moskito bei der Meditation aufs Augenlid niederlässt.

Interessanterweise sind es aber gerade Anfänger, die sich schnell eingestehen, dass sie eigentlich noch nicht wirklich wissen, was dieses Aikido nun wirklich ist. Sie kommen auf die Matte und stellen vielleicht fest, dass sie etwas vorfinden, was sie so wahrscheinlich noch nie gesehen haben. Und lassen sich dann neugierig darauf ein. Sie schmeißen vielleicht nicht 100%-ig, aber doch zu einem Großteil Erwartungen über Bord, die nicht zum Training passen und saugen mit großen Augen auf, was da auf der Matte passiert.

Das ist Shoshin, der Anfängergeist.

Eine fast schon abgedroschene Metapher besagt, dass eine Schale, die voller Wasser ist, nur überlaufen kann, wenn man weiter einschenkt. Erst, wenn die Schale geleert wird, kann sie neues Wasser aufnehmen. Unser Geist ist wie diese Schale und sollte vor jedem Training gelehrt werden, um unvoreingenommen aufnehmen zu können, was im Training passiert.

Als Anfänger geht das noch vergleichsweise einfach. Darum macht man schnell Fortschritte. Jede Bewegung wird geschätzt und jeder Erfolg ist von Bedeutung. Stück für Stück bauen wir jedoch mit der Erfahrung ein gewisses notwendiges Selbstvertrauen in unser Können und anschließend sogar Expertise auf. Und plötzlich zählt man zu den Fortgeschrittenen.

Das ist etwas sehr Gutes. Denn wieso sollte man üben, wenn es nirgendwohin führt. Allerdings leiden wir als Menschen unter einer Bestätigungstendenz (confirmation bias), die uns die Realität immer so sehen lässt, wie vorherige Erfahrungen es uns bereits gelehrt haben.

Wenn wir allerdings in diese Falle tappen, passiert es schnell, dass wir im Training eine Bewegung sehen und nur noch abwinken: "Ah, Ikkyo, das kenne ich." Und dann üben wir die gleichen Muster, die wir seit Jahrzehnten eingepflegt haben. Wie oft sind gerade Anfänger verwirrt, wenn sie mit einem vermeintlich Fortgeschrittenen trainieren, der einfach seinen Schuh macht, statt wirklich die vom Lehrer vorgezeigte Thematik zu bearbeiten.

Es ist ein Zeichen für ein gesundes Lernklima, wenn auch fortgeschrittene Schüler noch eine gehörige Portion Neugier für das nächste Training mitbringen. Wenn ein Schwarzgurt sich seinen Anfängergeist bewahren kann, dann ist wirkliche Entwicklung unaufhaltsam.

Wenn Du trainierst, geh davon aus, dass Du nie vollkommen verstanden hast, wie die Übung funktioniert, die gerade trainiert wird. Jede Information wird Dir weiterhelfen. Selbst wenn Du im Nachhinein feststellst, dass das Gelernte nichts für Dich ist kannst Du Dir dann nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben und das Beste aus der Situation mitgenommen zu haben. Stell Dich immer wieder in Frage. Nur so kannst Du wirklich Selbstvertrauen in Dein Können entwickeln.

Nimm es bereitwillig an, etwas nicht zu Können. Denn das ist die Voraussetzung dafür, es wirklich zu lernen. Es gibt keine Fehler, sondern nur Feedback. Bleibe ein Anfänger. Wenn Du es schaffst, diesen Geist in Dein Training einfließen zu lassen, dann wirst Du schneller lernen, als Du Dir je hättest träumen lassen. Das ist der Geist des Shoshin.