Über die ersten Schritte

Als Lehrer wird man immer wieder gesegnet. Mit Schülern, die voller Neugierde sind und Hingabe für Aikido. Die entdecken wollen und sich auf den Weg einlassen, den man ihnen so gerne zeigen mag. Nach Möglichkeit geht es Schritt für Schritt voran und jeder Neuling kann sich die Zeit nehmen, die er oder sie braucht. Aber manchmal bekommt man eben die Chance, einen Sprung zu machen. Warum also nicht?

 

Wenn jemand Neugieriges nach ein paar Stunden eine fortgeschrittene Stunde besucht hat, werde ich danach oft gefragt: "Kann ich da schon mitmachen? Vielleicht ist das zu viel und ich möchte nicht dreist sein. Nicht, dass ich die Fortgeschrittenen auf der Matte nerve, weil ich noch langsam bin...?" Was für eine interessante Sichtweise. Und sie ist am Anfang oft unumgänglich. Darum lass mich Dir hier kurz antworten.

 

Jeder, der mit Schwarzgurt auf der Matte steht, stand irgendwann einmal an genau der gleichen Stelle. Hat vorsichtig über die Türschwelle gelugt und sich gefragt: Bin ich dafür schon bereit? Störe ich die anderen? Und dann gab es eine gute Seele, die sich dieser Person angenommen hat und mit ihr trainiert hat. Denn nur durch die Erfahrung kommen wir dahin, wo diese sagenumwobenen Schwarzgurte schon sind. Sie alle haben die gleichen Erfahrungen gemacht und wissen, wie es sich anfühlt als Neuling auf der Tatami. Darum werden sie Dir helfen.

 

Es gibt ein Klischee, dass man von einem Anfänger viel lernen kann. Und oft wird das (mit ein wenig mangelnder Überzeugung) vor sich hin gebrummt, wenn ein Anfänger auf die Matte kommmt und jemand Fortgeschrittenes jetzt mit dieser Person trainieren soll. Aber dieses Klischee beinhaltet mehr Wahrheit, als vielen bewusst ist. Denn ja, es stimmt: Es ist wichtig, die Bewegungen im Aikido mit Personen zu studieren, die mehr Erfahrung haben, um deren Feingefühl für die Technik zu spüren und so eine Idee davon zu entwickeln, wo es hingehen soll. Und entsprechend muss man auch mit Leuten mit weniger Erfahrung regelmäßig trainieren, um zu sehen, wie man die Techniken mit jemandem ausführen kann, der eben NICHT weiß, worum es gerade geht oder welche Schritte als nächstes zu setzen sind. Eine Person, die die Technik nicht kennt, sanft in die richtige Richtung zu bewegen - das ist echtes Können. Und will geübt werden.

 

Natürlich gibt es Fortgeschrittenenstunden, die vielleicht nur mit Erlaubnis des Lehrers besucht werden dürfen. In dem Fall wird der Unterricht wahrscheinlich einfach für Dich noch zu komplex sein. Und genau das ist der Punkt: Wenn Du selbst überfordert bist, dann ist es völlig in Ordnung zu sagen "Ich warte noch, bis ich mich wohl fühle." Aber wenn Du Spaß an der Stunde hast, brauchst Du Dich nie darum sorgen, dass Du Deinen Partner störst oder gar vom "richtigen" Trainieren abhältst. Denn was ich eben schon bezüglich der Technik gesagt habe geht sogar noch eine Ebene tiefer.

 

Die Grundidee im Aikido ist, einen Konflikt harmonisch zu beenden. Eine Lösung zu finden, die für beide Parteien positiv ist und eine Win-Win-Situation darstellt. Wenn ich jetzt 20 Jahre trainiert habe und weiß, wie ich Dir erfolgreich den Arm verdrehen kann, kann ich mich natürlich hinstellen und vom Training mit einem Anfänger gelangweilt sein. Hin und wieder beobachte ich Leute, die ein Handgelenk greifen und dabei nach links oder rechts schauen. "Wo ist der Lehrer? Gibt's hier auch noch spannendere Partner?" Aber wie will ich einen Konflikt wirklich auflösen, wenn ich meinen Partner nicht ernst nehme?

 

Um wirklich harmonisch einen Konflikt aufzulösen, muss ich mit meinem Gegenüber auf Augenhöhe kommunizieren. Es ist schön zu wissen, dass ich mich schützen kann und technisch so dominant bin, dass mir der Anfänger nicht mehr gefährlich wird. Aber gerade dann fängt Aikido erst an. Wenn wir zusätzlich auch die Verantwortung für unseren Partner übernehmen. Und ihn als Menschen und nicht als Gegner betrachten. Mein Trainingspartner ist kein Wurffleisch. Sondern ein Mensch, der ehrlich versucht zu lernen. Diesem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und ihm trotz meiner technischen Fähigkeiten nicht das Gefühl zu geben von oben herab behandelt zu werden ist der Grundstein von Aikido.

 

Wer als Fortgeschrittener regelmäßig Anfängern aus dem Weg geht, hat unseren Weg nicht verstanden.

 

Darum ergreif die Chance, wenn Du schon lange auf der Matte stehst. Wenn Du einen Anfänger auf der Matte siehst: Geh hin und trainier mit dem Neuling. Was für eine wunderbare Möglichkeit, ungekünstelt Aikido mit jemandem zu teilen. Und darum scheu Dich nicht, wenn Du neu auf der Matte bist. Wenn Du selbst es Dir zutraust, wird jeder Partner mit mehr Erfahrung Dich unterstützen. Aus Mitgefühl, ja: Denn jeder von ihnen hat die gleiche Situation hinter sich. Aber noch viel mehr, um Aiki mit dir zu teilen. Und dafür brauchst Du keine Technik. Das geht von Herz zu Herz.

 

Onegai Shimasu!